NZZ-Artikel «Campino und Helge Schneider nehmen Benefiz-CD für Kinder im Sudan auf»

Campino und Helge Schneider nehmen Benefiz-CD für Kinder im Sudan auf

Eine bunt gemischte Gruppe deutscher Künstler sammelt Geld – für die Stiftung Emergency Switzerland in Zürich.

Angelique ist ein schüchternes Kind. Stumm und mit weit aufgerissenen Augen betrachtet sie die Krankenschwester, die ihr Blut abnehmen soll. Die Sechsjährige ist ganz alleine in die Klinik im Sudan gekommen, ihre Eltern sind in Rwanda geblieben, 2000 Kilometer entfernt. Als die Nadel in ihre Haut sticht, bleibt sie dennoch tapfer, verzieht nicht einmal das Gesicht. Es ist gut, dass sie keine Angst hat. Denn Angelique soll bald hier operiert werden, am offenen Herzen. Sie ist geschwächt und sehr dünn, es ist unklar, ob sie die OP überleben wird.

Die Geschichte von Angelique ist eine von mehreren, die der Oscar-nominierte Dokumentarfilm «Open Heart» erzählt. Der Film begleitet acht rwandische Kinder, die im Salam Centre im Sudan operiert werden. Sie alle haben Herzklappenfehler, verursacht durch rheumatisches Fieber, eine Folgeerkrankung einer Streptokokken-Infektion. Um im Alltag zu funktionieren, brauchen sie eine künstliche Herzklappe. Das Salam Centre ist das einzige Krankenhaus Afrikas, das solche Operationen kostenlos durchführt.

Der Dokumentarfilm «Open Heart» erschien 2013.

Als der Film 2013 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wird, hinterlässt er bei einem Zuschauer besonders tiefe Spuren: Den Münchner Musiker Christoph Well, der selbst als 14-Jähriger eine künstliche Herzklappe erhielt, lässt die Geschichte der Kinder nicht los. Er will das Spital unterstützen. Und weil er ohnehin gerade an einer neuen Blues-CD arbeitet, ist die Sache schnell klar: Er wird eine Benefizplatte zusammenstellen.

Christoph Well mit seiner Harfe.

Well gelangte in den 1980er Jahren als Teil der Volksmusik-Gruppe Biermösl Blosn zu deutschlandweiter Bekanntheit. Seit mittlerweile vierzig Jahren begleitet er den Kabarettisten Gerhard Polt bei dessen Auftritten musikalisch. Entsprechend gut vernetzt ist Well in der deutschen Musikszene. Kurzerhand ruft er bei einigen Freunden und Bekannten an, um sie für sein Projekt zu gewinnen.

Acht Jahre später kommt nun am 12. November die fertige CD in den Handel. Die Liste derer, die darauf zu hören sind, liest sich durchaus beeindruckend: Die Toten Hosen sind dabei und Helge Schneider, ausserdem Konstantin Wecker, Barbara Dennerlein, La Brass Banda und natürlich Polt und die Wellbrüder. «Ich bin einfach die Leute durchgegangen, mit denen ich immer schon gerne gespielt habe», erzählt er im Gespräch. Mit den Toten Hosen sind er und seine Brüder seit den späten Achtzigern befreundet, Campino habe sogar mal bei einem ihrer gemeinsamen Konzerte auf Wells Harfe gespielt.

Vor allem die «Hosen» haben sich für das Album weit aus ihrem üblichen Genre heraus gewagt. Denn «Open Harp Blues» ist ein 45-minütiger, bayrisch-volksmusikalisch angehauchter Blues, der einmal durch alle zwölf Tonarten wandert – unterlegt von einer durchgehenden Harfenstimme. Bayrische Volksmusik, Jazz und Punkrock geben sich auf der Platte die Hand. Well findet diese Kombination gar nicht so ungewöhnlich. 

«Ich finde, Punk kann Volksmusik sein und Volksmusik kann Punk sein. Die beiden haben gemeinsam, dass sie sich nix scheissen.»

Die Arbeit an «Open Harp Blues» nimmt viel Zeit in Anspruch

Und nix scheissen, das muss man sich wohl auch, wenn man sich so ein Projekt vornimmt. Sieben Jahre feilt Christoph Well an dem Album. Weil es eine Benefiz-CD sein soll, arbeitet er nicht mit einem Plattenlabel zusammen, sondern macht die gesamte Aufnahme- und Mischarbeit selbst. Nach und nach kommen alle beteiligten Künstler bei ihm zu Hause in München vorbei und spielen ihre Nummern ein, die sie extra für das Projekt geschrieben haben. Dafür verlangt keiner eine Gage.

Das Cover von «Open Harp Blues».

Am Ende spielt Well die Harfenstimme ein. Für ihn hat das Instrument eine grosse Bedeutung. Er war Solotrompeter bei den Münchner Philharmonikern, bevor er wegen seiner Herzprobleme auf ein weniger anstrengendes Instrument umsatteln musste. Well, der schon als Kind Harfe spielen wollte, setzte bald darauf seine Musikerkarriere als Konzertharfenist fort. «Ich habe also bis auf den Herzfehler wirklich ein sehr schönes Leben. Und da habe ich mir gedacht, man kann ja auch einmal etwas zurückgeben.»

Das Spital im Sudan erhält Unterstützung aus Zürich

Erst als die Platte schon fast fertig ist, erkundigt sich Christoph Well, wohin er sich dafür überhaupt wenden muss. Zu seiner Überraschung landet er dabei in Zürich. Und zwar bei Susann Mäusli, Geschäftsführerin der Emergency Switzerland Foundation.

Mäusli gerät über die Aktion regelrecht ins Schwärmen. Ihre Stiftung, der offizielle Schweizer Ableger der italienischen NGO Emergency, wurde erst 2013 gegründet und ist bis jetzt kaum bekannt. Entsprechend begeistert ist Mäusli, dass sie nun von so vielen bekannten Künstlern unterstützt wird. Und das Klinikum im Sudan, an das ihre Organisation spendet, kann mehr finanzielle Mittel dringend brauchen: «Das Krankenhaus ist ein Riesenapparat. Tausende Leute werden hier behandelt, aus einem gewaltigen Einzugsgebiet.» Die operierten Kinder kommen aus 28 Ländern und werden auch nach der OP lebenslang kostenlos medizinisch betreut. 2000 Franken werden für eine Operation benötigt, die Kosten für die Weiterbehandlung belaufen sich jährlich auf 200 Franken.

Gegründet hat das Krankenhaus der italienische Unfallchirurg und Anti-Kriegs-Aktivist Gino Strada. Seine NGO betreibt auf der ganzen Welt medizinische Einrichtungen für Opfer des Krieges und der Armut. Für seine Arbeit wurde Strada 2015 mit dem Right Livelihood Award, dem sogenannten alternativen Nobelpreis, ausgezeichnet. Von Christoph Wells Aktion wird er nichts mitbekommen: Strada verstarb im August dieses Jahres.

Susann Mäusli hofft nun, dass die Platte dazu beiträgt, die Stiftung im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen. Und Christoph Well ist zuversichtlich, dass das Album auch beim Schweizer Publikum Anklang finden wird – trotz dem bayrischen Anstrich. «Zwischen Zürchern und München ist der Unterschied nämlich gar nicht so gross. Das Schweizer Publikum ist uns mindestens so nah wie das Bremer.» Seit 35 Jahren kommen seine Brüder, Gerhard Polt und er mit ihrem Programm in die Schweiz, so auch in diesem Dezember. Bis dahin wird «Open Harp Blues» längst erschienen sein. Im Idealfall kann die Platte die Herz-OP mehrerer Kinder finanzieren.

Angelique, die schüchterne Sechsjährige aus Rwanda, hat ihre Operation damals gut überstanden. Sie ist gewachsen, stellen ihre Eltern nach ihrer Rückkehr fest. Und zugenommen hat sie auch.

Geschrieben von Nelly Keusch
Publiziert am 10.11.2021 auf nzz.ch. Lesen Sie hier den Artikel.
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